RWE – Wiesbaden 2:2 / Dumm, Dümmer, Haupttribüne

Verhöhnt & Bedient: Marcel Reichwein nach seiner Auswechslung  / © mdr

Er saß drei Reihen vor mir, hatte zu viel getrunken und offensichtlich einen miesen Tag. Er schrie mich an: „Das ist die schlechteste Erfurter Mannschaft die ich jemals gesehen habe“. Ich widersprach, woraufhin er noch lauter schrie. Ich begriff zum ersten Mal in meinem Leben den wahren Sinn der Redewendung „Schaum vorm Mund haben“. Zu diesem Zeitpunkt stand es 1:1 gegen den SV Wehen Wiesbaden. Einen Verein, den die meisten Trainer der 3. Liga als ihren persönlichen Aufstiegsfavoriten nannten. Einen Verein, der sich vor der Saison mit Spielern im Marktwert von ca. 3.2 Millionen Euro verstärkt hat. Einen Verein der unbedingt nach oben will und der dazu das nötige Geld hat. Es war gerade das erste Tor gegen uns gefallen. Das erste Gegentor überhaupt – im fünften Heimspiel des RWE in dieser Saison. Es war vollkommen absurd.

Ansonsten: ein munteres Spiel von zwei Mannschaften die ihre Stärke an diesem Abend eher in der Offensive hatten. Das Remis am Ende leistungsgerecht. Die Tore des RWE waren sehenswert: Caillas nutzt einen Stellungsfehler der Wiesbadener abgebrüht zum ersten Tor. Das zweite war das Resultat schnellen one-touch-Fußballs: der sehr agile Morabit vollendet überlegt. Beide Tore hat Marcel Reichwein aufgelegt. Er ist viel gelaufen, wie immer seit er für den RWE spielt. Er ist ein Stürmer den Emmerling stets aufstellt, auch weil er sehr gut nach hinten arbeitet. Gerade bei Standardsituationen des Gegners ist es oft Reichwein der den Ball aus unserem Strafraum klärt. So auch gestern. Aber auch was seinen eigentlichen Job als Stürmer betrifft, läßt sich die Bilanz sehen: in der letzten Saison war er der beste Torschütze des RWE (12 Tore), sowie der beste Scorer (plus 9 Vorlagen). Und auch in der laufenden Saison war er bereits an fünf Toren beteiligt. Ich kann Marcel Reichwein absolut nichts vorwerfen. Ich bin froh, dass er für meinen Verein spielt.

Nicht auf vielen Fußballplätzen dieser Welt wird ein Spieler, der zwei Tore vorbereitet bei seiner Auswechslung brutal verhöhnt. In Erfurt schon. Das ist auch mit einer verqueren Anspruchshaltung nicht wirklich zu erklären. Was da aus den Leuten herausbrach ist der pure Hass: dumm, häßlich, beängstigend. Ich glaube, dass dies rein gar nichts mit Sport, mit Fußball, oder mit der Leistung irgendeines Spieler zu tun hat. Ich glaube, dass hier einfach Menschen – die außer Rand und Band sind und zwar in- und außerhalb eines Stadions – eine Gelegenheit nutzen, ihren Frust in die Welt schreien. Das ist nichts Neues im Fußball, wird woanders aber möglicherweise durch die zivilisierenden Kräfte einer funktionierenden Fankultur gemildert. Leider nicht auf der Erfurter Haupttribüne, hier liegt die Frustrationstoleranz nur Nanometer über der Grasnarbe.

Was ich von Winfried Mohrens „Einwurf“ halte, hatte ich hier bereits geschrieben. Es war klar, dass es irgendwann mal zu einer Gegenreaktion des Trainers kommt. Dafür bot sich Emmerling gestern eine erstklassige, wenn auch unschöne, Gelegenheit und die hat er genutzt. Warum sollten die Schlagzeilen im Land nur Jena vorbehalten bleiben. Im Ernst – hier tut Emmerling den Kolumnen unseres Pressesprechers zuviel der Ehre an. Wenn 30 Leute diesen gestelzten Schrott lesen ist das viel – die Reichwein-Basher von gestern gehören mit Sicherheit nicht dazu. Ich hatte aber auch geschrieben, dass ich – abgesehen von seinen Kolumnen – viel von Mohrens Arbeit halte. Der Kompromiss könnte offensichtlicher nicht sein: Wilfried Mohren macht weiter als Pressesprecher, verzichtet aber in Zukunft auf diese Kolumen, die der Verein so nötig hat, wie die Wüste einen Eimer Sand.

5 comments

  1. Micha_EF sagt:

    Sehr gut geschrieben! Nur zwei Anmerkungen: Ich denke, dass deutlich mehr als 30 Leute besagte Einwürfe lesen. Zweite Anmerkung: Welche weitere wahrnehmbare Arbeit, außer den Einwürfen, leistet Wilfried Mohren denn?

  2. Fedor sagt:

    @Miche_EF: Danke für den positiven Kommentar.
    Zu Mohren: er leitet zum Beispiel die Pressekonferenzen und das macht er schon ziemlich gut, wie man sich bei eyep.tv anschauen kann. Außerdem erstellt er fast alle Texte auf der Webseite – und die sind auch alle in Ordnung – bis eben auf diese grausame Kolumne. Für die Gestaltung der Webseite an sich ist er nicht verantwortlich.

  3. hannifritzundbutzi sagt:

    Wir erlebten das Spiel LIVE und waren nach den Bildern im Mdr ergriffen. Man kann sich für diese „Fans“ nur entschuldigen. Die arg gelobte Besserung im Umgang mit Spielern schien wie vergessen. (R. Enke) Wird Marcel Reichwein jemals wieder für den rwe spielen können und wollen? Falls hier jemand einen offenen Brief an M. R. verfassen möchte (Inhalt Entschuldigung ) , wäre das sicher eine gute Idee. Denkbar wäre auch ein Entschuldigungsbanner zum nächsten Heimspiel.

  4. Fedor Freytag sagt:

    Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, das tragische Schicksal von Robert Enke mit den Vorfällen am Dienstag zu vermischen. Robert Enke hat sich in Folge einer schweren Depression das Leben genommen. Eine Depression ist eine Krankheit, wie Krebs eine Krankheit ist, an der viele Menschen sterben. Niemand ist mit Robert Enke respektlos umgegangen, er war eine Ikone in Hannover. Aber das hilft nichts bei Depressionen. Genauso wenig wie man Depressionen bekommt, wenn man verspottet und verhöhnt wird. Marcel Reichwein wird das verkraften. Aber, keine Frage, jede Symphatieäußerung von Seiten der Fans des RWE wird ihm gut tun. Darüber wird ja bereits in der RWE-Community verhandelt (http://board.rwe-community.de/)

  5. Ben sagt:

    Danke auch hier für diese treffende Analyse – du hast einen neuen „Follower“ 😉 – starker Blog, wo ist der „Gefällt mir“ Button 🙂

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