EM 2012: Gedanken in Stichworten

  • Großkotzig: Mehmet Scholl hat mich einst mit den Bayern versöhnt. So ein bisschen wenigstens. Inmitten der ARD-ZDF-Seichtigkeit ist er auch bei diesem Turnier gelegentlich ein Trost. Und trotzdem: Seine mantrahaft vorgetragene Unterscheidung in guten und schlechten Fußball nervt. Die Griechen spielen keinen schlechten (oder gar bösen) Fußball, sie spielen nicht einmal wirklich unattraktiven Fußball. Sie holen aus ihren Möglichkeiten das Maximale heraus. Davor habe ich großen Respekt, im Fußball wie auch sonst im Leben.
  • Weltekel I: Mein Lieblingstrainer bei diesem Turnier – der Portugiese Fernando Santos, Trainer der Griechen. Der wohl am mürrischsten und übellaunigsten dreinschauende Übungsleiter der Welt. Große Geste, öfter zu sehen: nach einem Fehler seiner Mannschaft vergräbt er sein Gesicht für lange Sekunden in den Händen. Danach hat er wieder eine Falte mehr in der Fassade. Wäre eine Rolle für Charles Bronson gewesen.
  • Unverständnis: Immer mal wieder wird der Ballbesitzfußball (possession play) der Spanier kritisiert und wahlweise als langweilig, stumpfsinnig oder nervend denunziert. Ich halte das für ausgemachten Unfug. Selbst wenn (weil der Gegner gut verteidigt, wie Italien, wie Kroatien) das Tika-Taka mal keine Großchancen in Reihe erzeugt, bleibt die Mannschaft in des Gegners Hälfte in Ballbesitz, was die Chancen eines Gegentores per se drastisch reduziert. Ich werde langsam alt (Brille, Laktoseintoleranz, zu schnelles Auto), ich sollte darüber nachdenken, Fan eines so spielenden Teams zu werden. Oder warum sonst haben spanische Männer die höchste Lebenserwartung in Europa?
  • Weltekel II: Diesmal rede ich von meinem. Waldis EM-Klub ist so ziemlich die Größte Erdenkliche Zumutung (GEZ), die sich Redakteure einfallen lassen können, um Sendezeit nach einem EM-Spiel zu füllen. Matze Knop ist als Comedian eine Ausgeburt der deutsche Humorhölle, so witzig wie eine Darmspiegelung und so subtil wie die Rechte von Wladimir Klitschko. Gegen ihn erscheint selbst Mario Barth als Reinkarnation von Loriot. Dann beginnt jeder zweite „Stargast“ seine Ausführungen mit dem Satz: „Eigentlich habe ich ja gar keine Ahnung von Fußball“. Müsste niemand sagen, merkt der Zuschauer auch so. Danke, ARD!
  • Schlampigkeit: Ich vermisse bei der deutschen Mannschaft die Präzision und Geschwindigkeit im Umkehrspiel. Das war bei der WM deutlich besser. Schon klar, die Gegner stehen tiefer und verteidigen nicht mehr so naiv wie England und Argentinien. Umso wichtiger wäre, die Kontermöglichkeiten, die es dann doch gibt, konzentrierter vorzutragen. So wurde, gegen die in der ersten Halbzeit desolaten Holländer, eine deutlichere Führung leichtfertig vergeigt.
  • Mentalität: Die Holländer sind nach Hause gefahren, weil sie keine Spieler wie Bender, Badstuber, Hummels oder Khedira haben. Wer dort was werden will, muss Stürmer (oder zumindest offensiver Mittelfeldspieler) werden. Ihre Angriffsreihe ist Weltklasse, alles dahinter kommt über europäisches Mittelmaß nicht hinaus. Das genügte bei der WM noch, bei dieser EM, mit ihrer schier unglaublichen Leistungsdichte, war es zu wenig.
  • Späte Liebe: Dass ich das jemals schreibe, war nicht wirklich zu vermuten: Ich finde die Spielweise der Italiener bei diesem Turnier großartig. Die Zuneigung scheint gegenseitig zu sein, denn bei allen bisherigen Spielen der Azzurri habe ich exakt das richtige Resultat getippt. Kein Zweifel, Balotelli und Cassano sind außerhalb des Spielfeldes (und manchmal auch darauf) veritable Assis. Davon abgesehen muss man jedoch zugeben, dass sie ein infernalisch gutes Sturmduo bilden. Über die Qualitäten von Spielern wie Pirlo und de Rossi muss man kein weiteres Wort verlieren. Cesare Prandelli hat eine Mannschaft zusammengestellt, die mindestens so schwer zu besiegen sein wird wie die Spanier. Meiner Meinung nach sind die Italiener besser als 2006. Der einzige Trost für ein evtl. Halbfinale gegen Italien ist, dass das auf die deutsche Mannschaft ebenfalls (und hoffentlich in noch größerem Maße) zutrifft.
  • Unfug: Der von der UEFA angewandte Qualifikationsmodus bei Punktgleichheit nach drei Gruppenspielen ist schwachsinnig. Was genau sollte man zwei Mannschaften vorwerfen, denen beispielsweise ein 1:1 zum Weiterkommen reicht und die sich – ohne jede Verschwörung, ohne dass auch nur ein Wort fällt – auf dem Platz, quasi symbiotisch, auf dieses Resultat einigen, nachdem es sich aus dem Spiel heraus so ergeben hat. Während der punktgleiche Gegner gegen den Gruppenvierten ein nutzloses Tor nach dem anderen erzielt. So ein Szenario auch nur theoretisch zuzulassen, ist fahrlässig.
  • Zwischenbilanz: Das ist eine großartige EM mit fast durchweg spannenden Spielen. Klar, viele Spiele in der Champions League sind qualitativ besser. Klubmannschaften sind eingespielter und müssen sich nicht darauf verlassen, dass es in ihren Landesgrenzen Eltern gibt, die begabte Linksverteidiger zur Welt bringen. Andererseits ist das Überraschungs- und Erregungspotenzial großer Länderturniere viel höher. Das Herz schlägt einfach schneller. Jedenfalls bei mir.

4 comments

  1. wiedermal sehr gut…zustimmung in allen punkten..!

  2. Bis auf den ersten Punkt super Text. Es stimmt das die Griene keinen bösen oder schlechten Fussball spielen… sie spielen nämlich gar keinen Fussball. Spielen bedeutet immer noch „mitmachen, aktiv sein“ und nicht „teilnhemen oder dabei sein“. Oder sagt ihr einem kleinen Jungen der im Kindergarten nur in der Ecke sitzt, du hast aber schön mit den anderen gespielt? Wenn das die Zukunft des erfolgreichen Fussballs ist(wie Chelsea!!) bleibt mein Fernseher in Zukunft aus.

  3. Max sagt:

    Volle Zustimmung, besonders in den Punkten Scholl, Griechenland und Spanien.

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