Sie haben es wieder getan. Diese Spanier. Gewinnen die Europameisterschaft – ohne Testosteron-Monster in der Mannschaft, bei weitgehendem Verzicht auf einen Mittelstürmer und ohne inbrünstiges Intonieren ihres Hymnentextes (mangels Masse). Ein Waterloo für die Talking Heads des deutschen Sportboulevards. Einige Anmerkungen meinerseits:
- Gewinner: Mehmet Scholl. Seine Weigerung sich Beckmanns populistischem Löw-Bashing anzuschließen hat mich wieder sehr für ihn eingenommen: „Das mache ich nicht mit.“ Ich fordere den Grimmepreis allein für diesen Satz. Und die sofortige Aberkennung desselben, wegen der ebenfalls von Scholl losgetretenen Führungsspielerdiskussion. Trotzdem: Kantersieg für ihn im TV-Duell gegen den Maulhelden von Usedom.
- Apropos Kahn: Für die jüngeren unter uns – Deutschland hat 2002 ein WM-Endspiel gegen Brasilien verloren. Bis zur 66. Minute war die deutsche Mannschaft dem brasilianischen Favoriten leicht überlegen. Zu unserer aller Überraschung. Dann unterlief Oliver Kahn, im wichtigsten Spiel seiner Karriere, ein Anfängerfehler, den Ronaldo zur spielentscheidenden Führung der Brasilianer nutzte. Darüber hätte ich nie ein Wort verloren, wenn mir seine penetrant-maßlose Kritik am angeblichen Fehlen angeblich deutscher Tugenden bei den derzeitigen Spielern nicht so ungeheuer auf den Sack gehen würde.
- These: Wir hätten das Halbfinale gegen Italien deutlicher verloren, wenn Löw auf einen dritten zentralen Mittelfeldspieler (Kroos) verzichtet und mit der Griechenland-Aufstellung begonnen hätte. Findet ihr gewagt? Ich auch. Ist aber ebenso wenig nachprüfbar wie das inzwischen zu einer Art höheren Wahrheit mutierte Postulat, dass wir mit der Anfangself des Griechenlandspiels gewonnen hätten. Ich kann Diskussionen darüber leider nicht ernst nehmen, in denen das Wort Raute nicht mal vorkommt. Diese Formation des italienischen Mittelfelds (mit vier zentralen Spielern) kann man als Trainer nicht einfach ignorieren – es bleibt richtig darauf reagiert zu haben. Die Frage lautete hier eher: Kroos oder Bender – für beide gab es Argumente, für Toni Kroos sprach sein wesentlich besseres Passspiel.
- Konditionierung: Mats Hummels ist einer der begabtesten Abwehrspieler den dieses Land je hervorgebracht hat. Er ist darauf konditioniert – im Vertrauen auf seine grandiosen Fähigkeiten – fast alle Abwehrsituationen auf dem Feld in eigenen Ballbesitz umzuwandeln und wenn möglich mit einem derart eroberten Ball den eigenen Konter einzuleiten. So verlangt es Jürgen Klopp. Fehler sind in dieses Konzept eingepreist, über 34 Meisterschaftsspiele gesehen, kann man sie nämlich korrigieren. An einem normalen Tag ist der BVB gegen fast jeden Gegner der Liga in der Lage, einen Rückstand wettzumachen. Manchmal geht das schief, dann verlieren sie halt eines von fünf Spielen. Macht dann immer noch 12 Punkten aus fünf Partien, ein Schnitt, mit dem man Meister werden kann. So funktionieren Turniere jedoch nicht, weil es deutlich weniger Spiele gibt. Die K.O.-Runde lässt keinerlei Spielraum, jeder Fehler kann das Ausscheiden bedeuten. Weswegen das Risiko einen solchen zu begehen so weit wie möglich minimiert werden muss. Jogi Löw wusste um die Gefahr, die die brillant-riskante Spielweise des BVB-Verteidigers birgt. Deswegen das lange Zögern vor dem Turnier, bevor er sich für ihn und gegen Mertesacker entschied. Wenn ich mir einen Verteidiger mixen könnte, dann würde er zu 80% aus Mats Hummels und zu 20% aus Karl-Heinz Förster bestehen. Aber Mats Hummels ist klug, er wird den Unterschied inzwischen begriffen haben, leider auf die für ihn – und uns – schmerzlichste Art und Weise.
- Mangelnde Willenskraft: Es wird der deutschen Mannschaft vorgeworfen, dass ihr nach dem Rückstand der Wille (gern verwendet in Verbindung mit dem Adjektiv absolut) gefehlt habe. Nun, ich kann die Enttäuschung verstehen, vor allem deshalb, weil ich sie teile. Aber muss hierzulande jede Niederlage mit einer charakterlichen Herabwürdigung der Spieler einhergehen? Es ist rein statistisch eben verdammt unwahrscheinlich, dass man ein 0:2 gegen Italien in einem K.O.-Spiel aufholt. Sechser im Lotto quasi das häufigere Ereignis. In den letzten zehn Jahren wurde bei sämtlichen internationalen Länderturnieren ein 0:2 in einem K.O.-Spiel nur einmal gedreht (Mexiko, 2011). Bei allen bisherigen Europameisterschaften gelang das noch keiner Mannschaft. Aufgeholt wurde ein 0:2 bisher nur von Deutschland im Endspiel 1976. War aber vergeblich, weil das anschließende Elfmeterschießen durch einen grandios vergeigten Elfmeter des Führungsspielers Uli Hoeneß verloren ging. (Quelle: Tobias Escher via Twitter).
- Führungsspieler: Der Mangel an selbigen wird in erster Linie (aber keinesfalls ausschließlich) von tatsächlichen oder vermeintlichen Veteranen dieser Spezies öffentlich beklagt. Im widerwärtigsten Fall einhergehend mit einer verbalen Demütigung aktiver Spieler: sie werden kurzerhand als «Chefchen» denunziert. In diesem Artikel auf spielverlagerung.de (vom letzten Jahr) finde ich meine Meinung in dieser Sache am ehesten wiedergegeben. Kurz zusammengefasst: Im besten Fall schaden sie nichts, ihre Bedeutung ist allerdings weit geringer als noch vor 10 Jahren. Was vor allem fußballerische Gründe hat. Durch den erneuten Triumph des spanischen Kollektivfußballs (diesmal sogar ohne Puyol) hat diese These noch einmal empirische Unterstützung erfahren. Damit könnte ich es zu diesem Thema bewenden lassen. Will ich aber nicht. Eines muss noch gesagt werden: Der Umgang mit Bastian Schweinsteiger in einem großen Teil der Medien ist einfach nur zum Kotzen. Mag sein, dass es klüger gewesen wäre, ihn nicht aufzustellen. Aber, wenn das Spiel gegen Italien ohne ihn verloren gegangen wäre, hätte es keine fünf Minuten gedauert, bis die Ersten aus ihren Löchern gekrochen wären, um ihm Feigheit vor dem Feind zu attestieren. Schweinsteiger hat sich nach seiner Verletzung sowohl von den Bayern als auch von der Nationalmannschaft in die Pflicht nehmen lassen. Eindeutig besser wäre gewesen, diese Verletzung grundhaft auszukurieren. Dann hätte er aber vermutlich in den entscheidenden CL-Spielen und bei der EM gefehlt. Das wollte er nicht, das wollten die Verantwortlichen beider Teams nicht, und wir, die Fans dieses großartigen Fußballers und Charakters, wollten das schon gar nicht. Es ist schief gegangen. Ihm das jetzt aber vorzuwerfen, ist das Allerletzte.
- Ironie: Mit Fernando Torres gewinnt der Mittelstürmer einer Mannschaft die Torjägerkrone, die zumeist ohne Mittelstürmer gespielt hat. Das ist lustig und beängstigend in einem. Wenn wir schon mal bei beängstigend und damit bei den Perspektiven der spanischen Elf sind: Stand heute, sieht es für alle anderen ambitionierten Fußballnationen dieser Welt nicht sonderlich gut aus. Schrottpapiere vergleichsweise solide Aussichten. Es deutet derzeit wenig darauf hin, dass sich die spanische Dominanz in nächster Zeit verflüchtigt. Ich sage es ungern, aber derzeit ruhen alle Hoffnungen des Weltfußballs allein auf Jose Mourinho und das es ihm durch beinhartes Intrigieren gelingt, die spanischen Spieler in den Classicos irreversibel gegeneinander aufzubringen. Klingt jämmerlich, ich weiß.
- Bilanz: Spanien gewinnt dieses Turnier auf Grund überragender technisch-taktischer Qualitäten. Es gelang ihnen fast durchweg die notwendige Defensiv-Offensiv-Balance zu wahren, auch wenn das zuweilen wenig schön aussah und selten spektakulär war. Einfacher gesagt: Sie waren die Besten. Rein offensiv angelegter Fußball gewann 1970 mit dem Triumph der Brasilianer in Mexiko das letzte Mal einen großen Titel. Die deutsche Mannschaft hat in der Vorrunde einen überaus kontrollierten Fußball gespielt und benötigte nur im Spiel gegen starke Portugiesen ein wenig Glück. Nach den Griechen erwartete uns mit Italien eine taktisch ungemein versierte und spielstarke Mannschaft. Trotzdem verlor man dieses Spiel in erster Linie wegen zweier höchst vermeidbarer Gegentore, die überdies recht wenig mit den Wechseln Löws zu tun hatten. Diese Fehler müssen zukünftig eliminiert werden (siehe oben), sonst braucht man sich hierzulande über weitere Titel keine Gedanken zu machen. Jogi Löw wird umdenken müssen und wir mit ihm: der hippe Hurra-Fußball der WM 2010 taugt nicht als Konzept für Titel. Ein Umbruch im Team (was genau das auch immer sein soll) ist dafür nicht notwendig. Wir verfügen über eine junge, hochbegabte Mannschaft, die in erster Linie pragmatischer agieren muss, um mehr Erfolg zu haben. Defensive Sicherheit ist nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts. Diese Lektion sollten wir angesichts von zehn spanischen K.O.-Spielen ohne Gegentor gelernt haben.
Wenn wir schon bei den Kalendersprüchen sind: Nach dem Turnier ist vor der Saison. Und die hat der FC Bayern heute mit einem spektakulären Move eröffnet. Die Verpflichtung von Matthias Sammer als Sportvorstand verspricht vor allem eines: ganz, ganz großes Kino an der Isar.
Welch wunderbarer Sport.
PS. Demnächst geht es hier natürlich weiter mit einer Einschätzung zur Saisonvorbereitung des FC Rot-Weiß Erfurt. Also endlich wieder richtig großer Fußball.